PMD Lexikon Artikel als PDF
Logopädie

Wir, Eltern oder Angehörige von PMD-Betroffenen, werden oft mit der Aussage konfrontiert, dass unsere Kinder vermutlich nie zu sprechen beginnen werden. Von sensiblen Phasen für den Spracherwerb ist dabei die Rede, die unbedingt zeitgerecht zu erreichen sind und nur ja nicht versäumt werden dürfen. Weiter werden die zahlreichen PMD-typischen Symptome (Muskelschwäche, Störung der Bewegungsplanung der Sprechorgane, autistische Verhaltensweisen) erwähnt, die das Erlernen des aktiven Sprechens massiv beeinträchtigen.

Etwas niederschmetternd Endgültiges wird mit diesen Informationen in uns aktiviert. Das Vertrauen in die Entwicklungskompetenz unserer Kinder schwindet. Werden sie lernen zu kommunizieren?

Entwicklung in eigenem Tempo
Sensible Phasen für den Spracherwerb gibt es, das stimmt. Zeitpunkt und Reihenfolge dieser sensiblen Phasen orientieren sich jedoch an Durchschnittswerten sprachgesunder Kinder (wann kommt das erste Wort, die erste Mehrwortäußerung, …). Das heißt jedoch nicht, dass diese Vorgaben für alle Individuen auf einer Zeitleiste fixiert sind und, wenn nicht pünktlich erreicht, wie ein verpasster Zug unwiederbringlich verloren sind. Kinder mit gewissen genetischen Erkrankungen (PMD, Down-Syndrom, …) müssen sich aufgrund ihrer körperlichen und hirnorganischen Gegebenheiten in einem gemächlicheren Tempo und über andere Wege als der Durchschnitt entwickeln, einem anderen „Fahr- und Netzplan“ entsprechend. Erfahrene TherapeutInnen und ÄrztInnen wissen um Besonderheiten solcher Entwicklungswege. Sie können uns Eltern und Betroffenen aufzeigen, dass Ent-wicklung auf eine besondere Art und Weise sehr wohl möglich ist und eine definitive Vorwärtsbewegung zeigt. Sei sie auch noch so langsam und klein! Der Zwang, dass sensible Zeitfenster zu erreichen sind, um Entwicklung aufrechtzuerhalten, ist somit sinnlos. Sinnvoll hingegen sind Geduld und Vertrauen, dass sich die Fähigkeiten unserer Kinder in ihrer Zeit und auf ihre individuelle Art manifestieren.

 

Muskelschwäche und Kaubedürfnis
PMD-Betroffene haben auf ihrer Entwicklungsreise mit zahlreichen Hindernissen zu tun. Die oft stark ausgeprägte gesamtkörperliche Muskelschwäche beeinträchtigt die entspannte Aufrichtung von Rumpf und Nacken und somit auch die Entwicklung der Kopfstabilität und der darauf aufbauenden Funktion des Mund-Gesichtsbereichs. Es kommt zu Phasen des massiven „Sabberns“ (Hypersalivation) und zu einem teils höchst ausgeprägten Kaubedürfnis. Letzteres kann durch Kauschläuche aus Silikon oder spezielle Kautools (geformt z.B. wie bunte Legosteine an einer Kette) in verträgliche und therapeutisch nützliche Bahnen gelenkt werden.

Das Trinken aus einem Glas, das Saugen an oder Blasen in einen Strohhalm, das Saugen an einem Fläschchen oder an der Brust der Mutter – all das ist für PMD-Betroffene keine ebene Strecke, sondern eine starke Steigung auf ihrer Entwicklungsfahrt.

 

Besondere Herausforderungen
Eine oftmals vorliegende Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und mundmotorische Planungs-schwäche, die das Wiedergeben des Gehörten erschwert, sowie autistische Verhaltensweisen hemmen den Erwerb des aktiven Sprechvermögens. Mangelnder oder nur sehr kurz gehaltener Blickkontakt minimiert das ausreichende Beobachten von Mimik und Sprechbewegungen des Gegenübers. Für das Sprechenlernen wichtige Information gehen somit verloren.

Die Entwicklungswege von PMD-Betroffenen können durch Logopädie nachhaltig unterstützt werden. Viele von uns Eltern machen jedoch zunächst einmal die Erfahrung, dass die Therapie mit der Begründung, dass das Kind noch nicht reif genug für klassische Logopädie sei, von Therapeutenseite beendet wird. Unerfahrene LogopädInnen sind überfordert, wenn PMD-Kinder, am Anfang ihrer Entwicklung stehend, kaum aktive Sprache benutzen und noch nicht über die Basiskompetenzen für den Spracherwerb (wie gerichtete Konzentration, Sitzfleisch, Blickkontakt, Interesse an Kommunikation) verfügen.

Lassen wir uns jedoch nicht von diesen Erlebnissen abschrecken. Erfahrene, spezialisierte und zugewandte LogopädInnen sind darin geschult, die Entwicklungskraft unserer Kinder zu erkennen und zu kanalisieren. Sie versuchen, Fördersituationen zu schaffen, in denen Konzentration und Aufmerksamkeit gegenüber Sprache und Kommunikation für PMD-Kinder aufzubringen und stückweise länger und länger zu halten ist. Das Sprachverständnis ist bei unseren Kindern meist viel besser ausgeprägt als das aktive Sprechen.

Je älter und mitteilungsbedürftiger die Kinder werden, umso frustrierender empfinden sie dieses Ungleichgewicht der Kompetenzen und ihre fehlenden, motorisch gehemmten Ausdrucksmöglichkeiten. Die spielerische Arbeit an und mit der schlaffen Mundmuskulatur und somit an den basalen Fähigkeiten wie dem willentlichem Saugen, Blasen, Kauen und Schlucken geht Hand in Hand mit dem Aufbau gezielter Artikulationsbewegungen. Wahrnehmung, Kraft und Bewegungsteuerung von Lippen, Zungen, Zähnen, Wangen und Gaumensegel werden so langsam optimiert, um eine für Nahrungsaufnahme und Sprechbewegungen unabdingbar stabile Basis zu bieten.

 

Therapietechniken
Hierbei kommen aktive Bewegungsübungen genauso zum Einsatz wie unterschiedliche Stimulationstechniken (ORT: Orofaziale Regulationstherapie nach Castillo-Morales/Brondo, PROMPT – Prompts for Restructuring Oral Muscular Phonetic Targets).

Körperübungen und Koordinationsübungen, wie etwa von der brasilianischen Logopädin Beatriz Padovan im Rahmen ihrer „Neurofunktionellen Reorganisation“ entwickelt, helfen dem Gehirn und somit auch dem Sprachzentrum, grundlegend aus- und nachzureifen.

Die Arbeit an Sprache und Kommunikation beschränkt sich in der spezialisierten Logopädie bei weitem nicht nur auf das Anbieten von Lautsprache. Vielmehr werden alternative Kommunikations-techniken aufgezeigt: Körpereigene, wie etwa die österreichische/deutsche/deutsch-schweizer Gebärdensprache oder aber auch körperfremde Techniken, wie etwa der Gebrauch von Piktogrammen in Papier- oder digitaler Form (Metacom, Metatalk). Die individuelle Anwendung kann sich dann durchaus als Mischung von Lautsprache und alternativen Techniken präsentieren und sich mit der Zeit und der wachsenden Kompetenz unserer Kinder verändern.

Wenn man eines nie mit Sicherheit sagen kann, dann ob, wann und in welchem Ausmaß unsere Kinder bestimmte Fähigkeiten erlernen. Das gilt auch für das Sprechen. Wir können aber unsere Kinder, unterstützt und angeleitet von spezialisierten LogopädInnen, auf ihrer Reise in die Welt der Sprache und der Kommunikation begleiten und uns an ihren Fortschritten freuen. An jedem einzelnen.

In der Arbeit mit PMD-Betroffenen haben sich unter anderem folgende sprachtherapeutische Zugänge bewährt:
Padovan-Methode (Methode der Neurofunktionellen Reorganisation NFR):
benannt nach der Erfinderin und Sprachtherapeutin Beatriz Padovan (https://padovan-gesellschaft.de/). Durch gezielte, der physiologischen Entwicklung des menschlichen Nerven-systems folgende Körper-, Hand-, Mund- und Augenübungen soll eine Aus- bzw. Nachreifung des zentralen Nervensystems unterstützt werden.

PROMPT (Prompts for Restructuring Oral Muscular Phonetic Targets/taktil-kinästhetisch-propriozeptiven Ansatz zur Behandlung sprechmotorischer Störungen), (www.promptinstitute.com). Mithilfe spezieller Berührungstechniken werden nach einer genauen Analyse der bereits erlernten und noch fehlenden Bewegungsmuster die Artikulationsorgane gemäß ihrer physiologischen Motorik stimuliert und somit ihr willentlicher und zielgerichteter Einsatz unterstützt.

ORT (Orofaciale Regulationstherapie nach Castillo-Maorales/Brondo):
(http://www.deutsche-therapeutenauskunft.de/therapeuten/logopaedie/therapieformen-der-logopaedie/orofaziale-regulationstherapie/). Durch Zug, Streichen und gezielt eingesetzte, schnell ausgeführte Druckveränderung (Vibration) wird der gesamte Mund-Gesichtsbereich in seiner Tiefenwahrnehmung gefördert und zu physiologischer Bewegung angeregt.

Unser Dank für diesen Beitrag geht an Lilian Hinterndorfer, Dipl. Logopädin, (http://therapiepunkt.at/pages/tp_team_hinterndorfer.html), mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit Kindern mit diversen Syndromen sowie insbesondere mit PMD-Kindern.

 

Autor: © Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V., 2020