PMD Lexikon Artikel als PDF
Autismus-Spektrum-Störung

Erscheinungsbilder und Symptome
Diagnostik
Neurologische Besonderheiten
Therapie- und Fördermöglichkeiten
Quellen

Etwa 70 Prozent der PMD-Betroffenen entwickeln eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Autismus als komplexe neurologische Entwicklungsstörung zeigt sich vor allem in Veränderungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung.
Nach der alten Klassifikation nach ICD-101 wurde zwischen verschiedenen Typen differenziert: frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus. Diese Typenbildung ist mit der neuen Klassifikation nach ICD-11 aufgehoben, und es wird für alle Formen nur noch von Autismus-Spektrum-Störung gesprochen. Dahinter steckt die Annahme, dass sich Autismus in einem Kontinuum von sehr leichten bis schweren Verlaufsformen äußert.

1 ICD bedeutet International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, auf Deutsch: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegeben und ist die wichtigste Grundlage, um medizinische Diagnosen zu stellen. In Deutschland sind Kassenärzte verpflichtet, ihre Diagnosen entsprechend der ICD-Klassifikationen zu stellen. Quelle: www.autismus-kultur.de

 


Erscheinungsbilder und Symptome
Die Ausprägungen und Erscheinungsbilder von Autismus sind sehr individuell. In drei Bereichen, den zentralen Diagnosekriterien, weisen jedoch alle Menschen mit Autismus Beeinträchtigungen auf: in der sozialen Interaktion und in der Kommunikation. Und sie haben sich wiederholende, stereotype Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen.

1.) Soziale Interaktion
Menschen aus dem Autismus-Spektrum haben keine gut ausgebildete Theory of Mind. Diese entwickelt sich bei Kindern normalerweise mit etwa 4 Jahren und umfasst die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, deren Gedanken und Absichten zu erfassen sowie Körpersprache und Stimmungen richtig zu deuten.

Das Verhalten Betroffener ist oft der Situation nicht angemessen, etwa im Hinblick auf das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz oder der Wechselseitigkeit der Kommunikation. Z.B. halten sie lange Monologe oder reagieren nicht auf Äußerungen des Gegenübers. Auch die Motivation zur Kommunikation kann beeinträchtigt sein: So fehlt das Verständnis dafür, dass der Andere Wünsche nicht per Gedankenlesen erfassen kann, sondern hierfür kommuniziert werden muss.

2.) Kommunikation
In ihrem eigenen Kommunikationsverhalten sind Menschen mit ASS vielgestaltig eingeschränkt. Bei einem Teil der Betroffenen verzögert sich die Entwicklung verbaler Sprache oder bleibt komplett aus. Bei denjenigen, bei denen sich verbale Sprache entwickelt, können – trotz teils elaborierter Sprachfähigkeiten – Auffälligkeiten dergestalt entstehen, dass sie einzelne Wörter oder Phrasen immer wieder wiederholen (Echolalie), Sprache nicht sinnhaft einsetzen und Wörter unpassend oder eigenartig verwenden.

Bei Betroffenen ohne verbale Sprache können durch ihre stark eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten Verhaltensauffälligkeiten (-> herausforderndes Verhalten) auftreten, z.B. Schreien oder vehementes an der Hand ziehen, welchem am besten mit der Förderung der Kommunikation (-> unterstützte Kommunikation) begegnet werden sollte. Auch eine reduzierte Gestik und Mimik sowie die Vermeidung direkten Blickkontakts sind häufig zu beobachten.

Während bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum etwa die Hälfte keine verbale Sprache entwickelt, ist dies bei PMD-Betroffenen eines der zentralsten Merkmale, d.h. der überwiegende Teil der PMD-Betroffenen bleibt nonverbal.

3.) Sich wiederholdendes, stereotypes Verhalten und eingeschränkte Interessen
Bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum lassen sich wiederholende und stereotype Verhaltensweisen beobachten, die für die Umwelt teils ungewöhnlich erscheinen können, z.B. Wedeln mit den Armen, Schaukeln, Kreiseln von Dingen, ein Interesse an Teilaspekten von Objekten oder eine Fokussierung auf nur wenige Aktivitäten und Themen. Zudem benötigen viele Betroffene klar strukturierte, verlässliche Handlungsroutinen in ihrem Alltag. Manche bestehen auf bestimmten Ritualen, möchten jeden Tag dasselbe essen oder den immer gleichen Weg zur Schule nehmen.

Schon leichte Veränderungen in Alltagsroutinen können zu großer Aufregung führen. Um diesem Bedürfnis nach klaren Strukturen zu begegnen, bieten sich individuell angepasste (visuelle) Hilfen aus dem TEACCH-Ansatz an, z.B. Ablauf- oder Wochenpläne. Menschen mit Autismus können visuelle Informationen besser verarbeiten als sprachliche, weshalb Förderansätze, die mit Visualisierungshilfen arbeiten (v.a. TEACCH) sowie Formen unterstützter Kommunikation mit Bildern (v.a. Bildkarten, elektronische Kommunikationshilfen) empfehlenswert sind.

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Neurologische Besonderheiten
Die drei Bereiche, in denen Menschen aus dem Autismus-Spektrum in ihrem Verhalten auffällig sind, lassen sich vor allem auf drei neurologische Besonderheiten zurückführen: die bereits dargestellte schwach ausgeprägte Theory of Mind, eine schwache zentrale Kohärenz sowie Einschränkungen in den exekutiven Funktionen.

Eine schwache zentrale Kohärenz beschreibt eine besondere Art der Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen, die durch eine Präferenz für Detailinformationen anstatt für Gesamtbilder und Zusammenhänge charakterisiert ist. Betroffene sehen beispielsweise in einem Wald nicht den Wald als Ganzes, sondern jeden einzelnen Baum mit seinen zahlreichen Ästen und Blättern. Obwohl eine schwache zentrale Kohärenz an sich kein Defizit beschreibt, führt diese zu Problemen und Verhaltensauffälligkeiten. So kann es schwer fallen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.

Die Wahrnehmung vieler Details kann eine hohe Ablenkbarkeit verursachen. Gerade in unserer heutigen Welt mit ihren oft vielfältigen Sinnesreizen können Menschen mit Autismus schnell reizüberflutet sein (Sensory Overload), was sich etwa über Schreien, Unruhe bzw. hyperaktives Verhalten ( ), Rückzug, Ohren zuhalten oder im extremsten Fall einen nicht kontrollierbaren Ausbruch (Meltdown) äußert. Bei Menschen mit Autismus werden nicht nur Überempfindlichkeiten für verschiedene Sinnesreize (z.B. visuelle, akustische, olfaktorisch) beobachtet, sondern auch Unterempfindlichkeiten, etwa ein verringertes taktiles Empfinden (z.B. bei Schmerzen). Betroffene suchen häufig nach starken, intensiven Reizen, z.B. Schaukeln, Kitzeln, Kuscheln, Toben, Trampolin, Wasser, Lichteffekte, sich Einrollen in Matratzen.

Die „Intense World Theory“, die 2007 vom Hirnforscher Henry Markram und seiner Frau, der Neurowissenschaftlerin Kamila Markram vorgestellt wurde, hat in der Autismus-Forschung für viel Aufsehen gesorgt. Die These postuliert, dass Autismus primär auf einer neuronalen Überreizung basiert, d.h. das Gehirn von Autisten überaktiv agiert, was zur Überforderung und Überreizung der Betroffenen führt (https://autism.wikia.org/wiki/Intense_World_Theory). Während für die wissenschaftliche Fachwelt die These empirisch noch nicht fundiert belegt ist, fühlen sich viele Menschen mit Autismus hiermit treffend beschrieben (s. auch in den weiterführenden Informationen das Buch von Lorenz Wagner).

Die exekutiven Funktionen2 sind geistige Fähigkeiten zum Steuern von Emotionen, Gedanken und Handlungen. Sie kommen zum Einsatz bei zielgerichteten (neuen) Aktivitäten sowie bewusst getroffenen Entscheidungen (Problemlösen, logisches Denken, Planen). In diesen Situationen reichen verinnerlichte Handlungsroutinen nicht aus. Diese Fähigkeiten sind normalerweise erst mit 25 Jahren voll entwickelt. Zu diesen Fähigkeiten zählen u.a. Impuls- und Emotionskontrolle, flexibles Denken, Handlungsplanung und Eigeninitiative.

2 Der Ausdruck Exekutive Funktionen (EF) ist ein Sammelbegriff aus der Hirnforschung und Neuropsychologie. Er bezeichnet jene geistige Funktionen, mit denen Menschen (im weiteren Sinne: höhere Lebewesen) ihr eigenes Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen ihrer Umwelt steuern. Sie dienen dazu, das eigene Handeln möglichst optimal einer Situation anzupassen, um ein möglichst günstiges Verhaltensergebnis zu erzielen. Andere Bezeichnungen für dieses Bündel an Fähigkeiten sind auch „kognitive Kontrolle“ oder „Supervisory Attentional System (SAS)“. Quelle: Wikipedia

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Diagnostik
Bei Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung kann die Diagnostik durchgeführt werden u.a. in einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), einer Autismusambulanz, einer Kinder- und Jugendpsychiaterpraxis oder beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD).

Die Diagnoseerstellung erfolgt in mehreren Terminen, umfasst ein Gespräch mit den Eltern (ADI-R diagnostisches Interview), eine psychologische Beobachtung des Kindes (ADOS Beobachtungsskala) sowie von den Eltern ausgefüllte Fragebögen (z.B. FSK Fragebogen zur sozialen Kommunikation). Testverfahren und -materialien können je nach Land variieren.

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Therapie- und Fördermöglichkeiten
Für Menschen aus dem Autismus-Spektrum wird eine Vielzahl von Therapien unterschiedlichster Disziplinen angeboten. Die erste Anlaufstelle für Betroffene und ihre Angehörigen in Deutschland sind die regionalen Therapiezentren (Recherche über: https://www.autismus.de). Um sich hier für einen Therapieplatz anzumelden, sollte im besten Fall bereits eine Autismus-Diagnose (zumindest auf Verdacht) vorliegen. Die Wartezeiten für den Ersttermin sind meist sehr lang (teils 1 bis 2 Jahre). Nicht entmutigen lassen und immer wieder auch bei verschiedenen Stellen nachfragen! Im Therapiezentrum wird gemeinsam mit Eltern und Bildungsinstitutionen (Kindergarten, Schule) ein individueller Therapieplan erstellt, der oft die klassischen Therapieansätze bei Autismus integriert (v.a. TEACCH, ABA, PECS, – Näheres dazu gleich infolge). Die Therapiezentren können aber auch zu anderen nicht angebotenen, evtl. umstrittenen Therapien beraten und bieten Fortbildungen oder Austauschgruppen für Angehörige an.

Viele Therapieansätze behandeln einzelne Symptome, z.B. Tomatis-Therapie als Hörtherapie oder Irlen-Farbfilter-Gläser bei Blendungsempfindlichkeit der Augen. Andere Therapien sind komplexer, vor allem jene zur Veränderung von Verhaltensmustern (z.B. Social stories oder ABA/VB) oder den Ausbau von Kommunikationsmöglichkeiten (z.B. PECS – Picture Exchange Communication System, Gebärden). TIPP: Einen guten Überblick über verschiedene Therapiemöglichkeiten bietet der „Elternleitfaden Autismus“ von Brita Schirmer.

Das TEACCH-Programm (Treatment and Education of Autistic and Communication handicapped CHildren) als breites Angebot an Strukturierungs- und Visualisierungshilfen kommt dem Bedürfnis vieler Betroffener nach klaren und verlässlichen Strukturen im Alltag sowie einer Präferenz für visuelle Informationen nach. TEACCH wird in den Therapieplan im Therapiezentrum integriert. Angehörige können auch über entsprechende Literatur (v.a. Häußler 2005) oder Fortbildungen Anregungen und Tipps für den eigenen Alltag erhalten.

Angewandte Verhaltensmethoden sollen langfristig unangemessene Verhaltensweisen abbauen und Kommunikations- bzw. Lernfähigkeit sowie angemessenes Sozialverhalten aufbauen. Das ABA/VB-Konzept (Applied Behavioral Analysis und Verbal Behaviour) verknüpft dabei Angewandte Verhaltensanalyse und Sprachanalyse zu einem verhaltenstherapeutischen Ansatz. ABA/VB wird entweder in einen individuellen Therapieplan im Therapiezentrum integriert oder kann über ein privates Institut realisiert werden. In letzterem Fall werden die Eltern und andere wichtige Bezugspersonen zu Hause von einem/r persönlichen Berater/in angeleitet und über die Jahre begleitet.

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Quellen
Autismus Deutschland e.V. Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus: Was ist Autismus? Online unter: https://www.autismus.de/was-ist-autismus.html

Fröhlich, Nina (2019): Kommunikation von Menschen mit ASS. Vortrag am 28.6.2019 auf dem 7. Phelan-McDermid-Familientreffen in Schönblick. Video verfügbar im Mitgliederbereich: https://www.22q13.info/kommunikation-von-menschen-mit-ass.

Huth, Isabel (2019): Allgemeine Infos über ASS. Vortrag am 29.6.2019 auf dem 7. Phelan-McDermid-Familientreffen in Schönblick. Video verfügbar im Mitgliederbereich: https://www.22q13.info/allgemeine-infos-ueber-ass.

Schirmer, Britta (2018): Elternleitfaden Autismus. Trias Verlag. 2. Aufl.

Weiterführende Informationen
Castañeda, Claudio & Hallbauer, Angela (2013): Einander verstehen lernen. Ein Praxisbuch für Menschen mit und ohne Autismus. Holtenauer Verlag.

Prizant, Barry M. & Fields-Meyer, Tom (2016): Einzigartig anders – und ganz normal. Kinder mit Autismus respektieren statt therapieren. VAK.

Video zum Sensory Overload: http://www.interactingwithautism.com/section/understanding/sensory/1

Häußler, Anne (2005): Der TEACCH Ansatz zur Förderung von Menschen mit Autismus. Einführung in Theorie und Praxis. 5. verb. u. erw. Aufl. Basel: Verlag modernes Lernen. ISBN 978-3-8080-0771-6.

Menze, Janina (2012): Autismus und die Lernmethode ABA. Angewandte Verhaltensanalyse. Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag. ISBN 978-3-8248-0992-9.

Schirmer, Britta (2018): Elternleitfaden Autismus. Trias Verlag. 2. Aufl.
Verein ABA Eltern e.V.: www.aba-eltern.de

www.autismresearchcentre.com

Wagner, Lorenz (2018): Der Junge, der zu viel fühlte. Wie ein weltbekannter Hirnforscher und sein Sohn unser Bild von Autisten für immer verändern. München: Europa-Verlag. 2. Aufl.

Anlaufstellen für Diagnostik, Beratung und Therapie mit Schwerpunkt Österreich
Dachverband Österreichische Autistenhilfe, Wien: www.autistenhilfe.at#

VKKJ – Verantwortung und Kompetenz für besondere Kinder und Jugendliche,
Wien und NÖ: www.vkkj.at

Ambulatorium Sonnenschein, St. Pölten: www.autismuszentrum-sonnenschein.at

Therapeutisches und diagnostisches Zentrum für Menschen mit Autismus und Asperger Syndrom, Steiermark: www.autismus-asperger.at

Autismusambulanz, Department für Kinder- und Jugendheilkunde der UniKlinik Innsbruck, Tirol:
www.kinderzentrum.tirol-kliniken.at/

Anlaufstellen für Diagnostik, Beratung und Therapie mit Schwerpunkt Schweiz
Psychiatrische UniKlinik Zürich, Fachstelle Autismus: www.pukzh.ch
Autismus deutsche Schweiz: www.autismus.ch
Autismushilfe Ostschweiz: www.autismushilfe.ch
Autismushilfe-Online: www.autismus-online.ch
Autismus Betreuung und Beratung: www.autismus-betreuung.ch


Autor: © Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V., 2020

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